Eine wahre Geschichte von Matthias Grenda
Eine wahre Geschichte von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Kommunikation ist der Flaschenhals, durch den alles durch muss

Im Sommer 2011 verbrachte ich beruflich einige Monate in Südfrankreich. Mit einem väterlichen Freund dort saß ich gelegentlich zusammen, um eine gute Flasche Wein zu trinken, den Blick über das Meer schweifen zu lassen und mich mit ihm über das Leben zu unterhalten. Eine Bereicherung in jeder Hinsicht, zwei Menschen unterschiedlichen Alters tauschen in Anbetracht aktueller Ereignisse Lebenserfahrungen und Lebensgeschichten aus.

Tannie Stovall from the Brothers Paris Web site

Foto: Dr. Tannie Stovall

Der Name meines Freundes ist Dr. Tannie Stovall, Jahrgang 1937, Physiker, Schriftsteller, Filmemacher und Bürgerrechtler aus Atlanta, Georgia. Tannie war ein junger Weggefährte von Malcolm X und Martin Luther King gewesen. Nach deren Morden in den späten 1960igern verließ er sorgenvoll die USA und zog nach Paris und Saint-Tropez. Tannie war ein echter Intellektueller, aber auch ein Mann mit viel Humor, Großherzigkeit und immer um seine Mitmenschen und dabei natürlich besonders seine schwarzen Brüder und Schwestern bemüht.

Eines Tages saß Tannie auf seiner Terrasse und bat mich zu sich. Er würde gerne eine Flasche Champagner mit mir trinken wollen. Was denn der Anlass wäre, fragte ich. Tannie sagte, er käme gerade vom Arzt und ihm sei mitgeteilt worden, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs und vielleicht noch ein halb Jahr zu leben hätte. Ich war schockiert.  Tannies Frau Janine gesellte sich zu uns und kritisierte, dass ihm der Arzt doch Alkohol verboten hätte. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu sagen, der Champagner wird Tannie nicht töten, der Krebs wird das tun. Tannie war sehr gefasst und begab sich am nächsten Tag in die Klinik für alle möglichen Therapien.

Vor meiner Rückkehr nach Deutschland fragte ich Tannie, ob wir ein Interview per Mail zum Thema „Leben und Tod“ führen könnten. 30 Tage, 30 Fragen. Fragen, die aufeinander aufbauen würden, also die neue Frage erst nach der jeweiligen Antwort. Zu unsicher schien mir das Terrain und auch mein Mut, würde ich wirklich offen fragen und Tannie ehrlich antworten können. Außerdem, viel Zeit hatten wir ja nicht…

Tannie war sofort einverstanden und so stellte ich meine erste Frage: „Welche Bedeutung hat „Zeit“ für Dich nun, da Du weißt, dass Du nicht mehr viel Zeit haben wirst?“

Die Antwort ließ zwei Wochen auf sich warten, zu hart war die Chemotherapie für den angedachten täglichen Frage-Antwort Rhythmus. Dann kam eine Mail von Tannie mit folgendem Wortlaut:

„Das einzige was sich verändert hat, ist, dass ich überzeugter bin denn je, dass ich das alles nicht verstehen werde. Und, was ist schon Zeit? Ich glaube, dass es einfach etwas ist, was wir mit einer Uhr messen, einem Instrument, welches die Zeit nimmt, mich aber nicht wirklich voran gebracht hat. Zeit, was auch immer es nun ist,  ist jetzt etwas, von dem ich nicht mehr viel übrig habe. Zudem scheine ich die letzten Monate mit dem zu verbringen, was ich seit meiner Jugend getan habe, ich versuche mich selbst zu verstehen und vielleicht auch alles andere. Meine Aktivitäten drehen sich momentan darum, meine finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Meine Hauptsorge ist meine Gefährtin seit 25 Jahren, Janine. Ich möchte sie gerne komfortable versorgt verlassen und in eine Position bringen, in der es ihr einfach möglich sein wird, einen Ersatz für mich zu finden. Janine ist jetzt 66 Jahre alt und ich würde mir für sie wünschen, dass sie ein befriedigendes Liebesleben für mindestens weitere 25 Jahre erlebt. Auch verbringe ich eine Menge der Zeit die mir bleibt damit, zu verstehen, warum ich mich so verpflichtet fühle, ihr in dem Ausmaß zu helfen, wie ich es mir wünsche. Die simple Antwort ist wohl, dass ich sie liebe. Sie war gut zu mir und für mich und meine Gefühle sind einfach nur menschlich und natürlich. Allerdings habe ich auch den starken Verdacht, dass das, was ich wirklich damit tue, ist, es all den Frauen, die mich zurückgewiesen haben, zu zeigen, was für Dummköpfe sie waren. Kann irgendetwas mehr  belanglos und eingebildet sein?

Nun, auf einer anderen zeitlichen Ebene, diesem Zeitpunkt der Geschichte, das Jahr 2011. Ich glaube, dass ich mich glücklich schätzen kann, in einer Zeit gelebt zu haben nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und vor den großen sozialen Unruhen, die ich weltweit für den Planeten befürchte. Ich glaube, dass die weltweite Bevölkerung weiter wachsen und die Verteilung von Reichtum zunehmend als ungerecht angesehen werden wird. Gesellschaften könnten zerbrechen, für hunderte vielleicht sogar tausende von Jahren, gewiss, ich fühle mich glücklich, dass alles zu verpassen. Mir ist bewusst, dass andere es spannend und aufregend finden in einer Zeit zu leben, die die Chinesen als „Interesting Times“ bezeichnen, nicht aber ich. Mein Leben fand in einer dieser Phasen statt, die ich dir einmal ausführlich beschrieb… nach der Erfindung der Anti Baby Pille und vor AIDS. Ich habe das Gefühl, dass ich mich sehr glücklich schätzen kann, in einer Periode gelebt zu haben, die relativ friedvoll war und großen sozialen Fortschritt für viele Menschen auch in Indien, China, Südafrika und den Vereinigten Staaten von Amerika gebracht hat.

Nächste Frage bitte. Ich hoffe, dass es nicht wieder so lange dauert, bis ich sie beantwortet habe, während meine Behandlung weiter geht. Tannie“

Ich stellte sogleich die zweite Frage: „Welche Rolle hat „Zurückweisung“ in Deinem Leben gespielt?“

Tannie meldete sich danach in unregelmäßigen Abständen per Mail, meist um sich dafür zu entschuldigen, dass er immer noch nicht geantwortet hätte, weil ihm die Kraft zum Schreiben fehle. Das Interview blieb unvollendet, zumindest für mich. Nur zwei Fragen hatte ich gestellt, die eben zitierte Antwort  bekommen.

Im Mai 2012 sahen Tannie und ich uns in seiner Pariser Wohnung wieder. Ihm lag viel daran, gemeinsam eine Flasche Champagner zu trinken und mir zu sagen, wie wichtig ihm das Interview mit mir gewesen war. Dass es ihm sehr geholfen hätte. Ich wusste in diesem Moment, dass er das Interview mit allen 30 Fragen für sich selbst komplett beantwortet hatte.

Dr. Tannie Stovall starb im Juni 2012 in Paris, im Beisein seiner Frau Janine.

Mir werden die Gespräche mit ihm ewig in Erinnerung bleiben und mir stets eine große Motivation sein, offen und ehrlich zu fragen, aber auch zu antworten. Kommunikation ist eben der Flaschenhals, durch den alles durch muss. Und ein Glas Champagner hilft dabei ungemein.

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