Genussgedanken von Matthias Grenda
Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Dienstag, dem 19.05.2020

Gestern Abend habe ich eine Dokumentation über das „wilde Istanbul“ gesehen. Dabei ging es nicht um die Menschen, sondern um die Tiere, die diese Stadt am Bosporus bevölkern oder dort auf ihrer alljährlichen Wanderung haltmachen. Darunter Tausende von Störchen. Ich war sofort an ein Buchprojekt erinnert, was ich vor Jahren mal konzipiert, aber bisher noch nicht umgesetzt habe. „Mama, wo kommen die kleinen Babys her?“. Es ging um sogenannte Klapperstorchgeschichten. Ja, woher kommen die Babys denn eigentlich? Wie kommen sie auf die Welt? Werden sie vom Storch gebracht? Oder hat die Hebamme sie in ihrer großen Tasche dabei? Der Ausgangspunkt des Buches sollte die Fragestellung sein, was man als Kind geglaubt hat, was einem die Eltern oder auch Großeltern darüber erzählt haben und wie und durch wen man aufgeklärt wurde. Denn das „Märchen vom Klapperstorch“ ist eigentlich kein Märchen, sondern ein Mythos, der vom Storchen als Glücksvogel berichtet, sich ab dem 17. Jahrhundert zunehmend auch bildhaft verfestigte und erklären sollte, wo die kleinen Kinder herkommen. Diese Erklärung ist nirgends zu einer eigenen Geschichte ausformuliert, nur der Inhalt, die Kunde davon, wurde von Generation zu Generation weitergegeben.

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„1950 machte unsere Lehrerin mit uns Erstklässlern einen Ausflug zu einer gefassten Quelle im Feld und erzählte uns, hier würde der Storch die kleinen Kinder holen und den Eltern bringen.“ Dazu gehörte auch die Behauptung, der Storch hätte der Mutter ins Bein gebissen, so dass sie wie eine Kranke im Bett liegen musste. Wenn die Kinder einen Storch sahen, riefen sie „Storch, Storch, guter, bring mit einen Bruder“ oder „Storch, Storch, bester, bring mir eine Schwester“. Ab Ende der 1960iger Jahre verschwand der Klapperstorch zunehmend als Aufklärungsvehikel der Eltern. Die Schulen behandelten das Thema „Kinderkriegen“ im Biologieunterricht. Der Mythos und der Klapperstorch als Symbol sind aber geblieben.

Hier mal zwei Bespiele aus den Erinnerungen zweier älterer Damen. Einmal von Emilie, damals 85 Jahre:

An die Geburt meiner Brüder Paul und Edmund kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber daran, wie Else, das elfte und letzte Kind unserer Familie, zur Welt kam… Nach einiger Zeit sah ich, wie Vater den Federwagen anspannte, um wegzufahren. „Wohin fährst du und was ist mit Mama?“ „Ich hole eine Frau, die helfen wird, dass du ein Geschwisterchen bekommst.“ Damit fuhr er davon. Schön und gut, aber was war mit Mama? Wenn mein Vater nicht mehr da war, konnte ich doch schnell ins Schlafzimmer laufen und nach ihr schauen! Aber schon an der Tür wurde ich sehr barsch von einer Nachbarin abgewiesen: „Nun stör nicht immer! Geh in die Scheune und warte, bis du gerufen wirst!“ Selten ist mir ein Nachmittag so lang geworden. Ich saß, wie mir befohlen worden war, in der Scheune, hatte immer noch das Stöhnen meiner Mutter im Ohr und sorgte mich. Endlich, nach einer unendlich langen Zeit, rief mein Vater nach mir: „Milusch! Du darfst ins Schlafzimmer! Du hast ein Schwesterchen bekommen.“ Erlöst nahm ich wahr, dass meine Mutter mir zulächelte, als ob nichts gewesen sei. „Warum ist das Baby so rot?“, fragte ich als erstes. „Alle Babys sind so“, antwortete meine Mutter, aber ich vermutete, dass die Frau, die mein Vater geholt und die mit einer großen Tasche im Haus verschwunden war, das Baby in der Tasche mitgebracht und aus Versehen zu stark gedrückt hatte. Alle waren zu höflich, ihr deswegen Vorwürfe zu machen. Aber wenigstens wusste ich jetzt, wo die Babys herkamen.

Antonia, damals 83 Jahre

Ja, und damit begann die Zeit, wo ich nur in anderen Umständen war. 1949 ist Hermann geboren und dann mal mit einem, mal mit anderthalb Jahren Abstand die nächsten Kinder. Man könnte fast sagen, ich bin zwanzig Jahre in Umständen gewesen. 13 Kinder und zwei Fehlgeburten. Das war mein Leben. Manchmal frage ich mich heute, wie ich das eigentlich gemacht habe. Wir hatten immer mindestens zwei, manchmal sogar drei oder vier Wickelkinder und es gab noch keine Papierwindeln, nur Stoff, und es gab noch keine Waschmaschine. Was diese Zeit am besten kennzeichnet ist wohl, dass ich die ersten Jahre in Vreden niemanden gekannt habe. Ich kannte niemanden, keiner kannte mich. Ich war einfach immer nur zu Hause. Wenn ich damals die Wahl gehabt hätte, hätte ich nicht so viele Kinder bekommen. Aber das war ein Tabuthema, da sprach man nicht drüber. Wir waren ja auch nicht die einzige Großfamilie. Die Nachbarn zur einen Seite hatten elf, die zur anderen Seite neun Kinder. Das war eben so. Ich glaube, keine Frau hat sich das wirklich ausgesucht. Aber man sprach eben nicht drüber und es gab niemanden, der einem eine Hilfestellung gab. Wir kamen ja auch alle so dumm in die Ehe, wie man nur kommen konnte. Keine von uns war irgendwie aufgeklärt worden. Das war auch ein Thema, über das man mit niemandem sprach, nicht einmal mit der besten Freundin und schon gar nicht mit dem eigenen Mann, so waren wir eben erzogen.

Wie sehr sich doch die Zeit geändert hat. Der Kindermund heute spricht ganz anders über das Thema Sexualität und Kinderkriegen:

Verliebte haben verschmierte Münder.

Verliebte müssen schon schrecklich verliebt sein, sonst wird das nichts mit Kindern.

Küssen ist nebeneinander, Knutschen aufeinander.

Sex muss sein und ist eigentlich nicht so schlimm.

Zwillinge? Das ist wie bei den Kastanien, manchmal sind zwei drin.

Da weißt Du Bescheid… Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

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