Genussgedanken von Matthias Grenda
Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Freitag, dem 08.05.2020

Wow, was für ein Tag heute. Der 2. Weltkrieg endete vor genau 75 Jahren und damit eine der schrecklichsten Phasen der Weltgeschichte, ausgehend von Deutschland, mit geschätzten 60 bis 65 Millionen Toten durch direkte Kriegseinwirkungen und unter Berücksichtigung der Verbrechen und Kriegsfolgen. Insgesamt sogar mit um die 80 Millionen sinnlos verlorenen Menschenleben. Wow, weil es schon so lange her und doch noch so präsent ist und wow, weil die Masse der Opfer eine so unvorstellbar große Zahl ist, selbst dieser Tage, wo mit riesigen Zahlen auf allen Ebenen so leichtfertig jongliert wird. Da wird es doch auf paar Millionen mehr oder weniger nicht ankommen… Eine monströse Vorstellung, ein nachhaltig wirkendes Trauma, was vielleicht sogar das heutige Verhalten und die spürbare Angst bei jeder Entscheidung im Rahmen der Corona-Krise etwas verständlicher werden lässt. Was folgt ist eine gerade viel diskutierte Maßnahme, die der französische Verhaltenspsychologe Tomas Pueyo die „Der Hammer und der Tanz- Methode“ nennt. Nach dem Hammer des „Lockdowns“ folgt der Tanz der Lockerungen und Maßnahmen, zwei Schritte vor, einer zurück… Cha-Cha-Cha…

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Ich bin nun nicht so der große Tänzer und will mich auch gar nicht über diese Vorstellung eines Cha-Cha-Cha tanzenden Paares im Zusammenhang mit der Krise lustig machen. Dafür ist mir das Prinzip und die Bedeutung von Musik, also Rhythmus und Bewegung dazu, für die Menschheit viel zu einleuchtend. Leider hat diese Ausdrucksform von Emotionen, dieses sich freuen aber auch das innerliche Druck- und Dampfablassen, etwas mit Geselligkeit und Körperkontakt zu tun und das geht im Moment einfach nicht oder zumindest nicht außerhalb der eigenen vier Wände. Wer tanzt schon für sich alleine, ok, vielleicht noch zuhause, aber bestimmt nicht auf offener Straße oder im Park. Ok, auch diese Menschen gibt es, sie werden aber kritisch oder peinlich berührt beäugt. So ähnlich ging es mir, als ich mit 15 oder 16 von meinen Eltern zur Tanzschule angemeldet wurde. Ich mit langen Haaren und Mittelscheitel, mich schwer als Revoluzzer fühlend, sollte mich an konventionellen Gesellschaftsspielchen beteiligen? Nicht mit mir… Und weil ich das Spiel natürlich nicht durchschaute, jeder suchte sich bei der ersten Stunde möglichst schnell einen attraktiven Tanzpartner aus, blieb mir ein Mädchen, was nach Leberwurstbroten roch. Ich liebe Leberwurst, aber zu Beginn eines gemeinsamen Abenteuers stelle ich mir etwas anderes vor.

Meine tänzerische Befreiung fand eher im Privaten statt, auf den diversen Feiern in irgendwelchen Partykellern und später auf Konzerten. Schnell waren wir dem Luftballon- oder Apfelsinentanz, und damit dem ersten engen Kontakt mit dem anderen Geschlecht, entwachsen und das wilde Schütteln der Mähne, auch „Headbanging“ genannt, und begeisterte Luftgitarrenspiel wurden unsere favorisierte Ausdrucksform. Ok, später auch das wilde Zappeln auf Geburtstagsfeiern und Hochzeiten zu den großen Hits unserer Tage. Vom klassischen Paartanz hielt ich mich so gut es ging fern. Discofox ist und bleibt nicht meine Welt. Erst in den letzten 12 Monaten ist mir dann neben der persönlichen Ebene des Tanzens auch die gesellschaftliche, letztendlich sogar politische Dimension des sich Drehen, Zucken, Wirbeln, Stampfen, Jauchzen und Ringeln klar geworden. Ich lernte Paul Glaser kennen, dessen Tante „Die Tänzerin von Auschwitz“ war.

Die Jüdin Roosje Glaser besaß als leidenschaftliche Tänzerin und Tanzlehrerin mehrere eigenen Tanzschulen in Holland und hatte Auftritte in Wochenschauen im Kino, als die Nazis das Land okkupierten. Die Musik und das Tanzen gaben ihr einen unbändigen Lebenswillen. Sie überlebte den Holocaust und die Torturen in insgesamt sechs Konzentrationslagern. Sie war in Auschwitz den medizinischen Experimenten von Josef Mengele ausgesetzt. In Birkenau musste sie Leichen aus den Gaskammern schleppen. Trotzdem brachte sie abends den SS Wachoffizieren Cha-Cha-Cha bei. „Mich kriegen sie nicht klein“, hatte sie sich bei der Ankunft in Auschwitz im September 1943 geschworen. Als sie nach Kriegsende ins schwedische Exil ging und das Rote Kreuz dort ein erstes kleines Fest gab, um ein Stück Normalität zu zelebrieren, tanzte Roosje vor Publikum zu Ravels „Bolero“. Als ich diese Stelle in dem Buch, welches Paul Glaser über seine Tante Rossje geschrieben hat, las, spürte ich ihre innerliche Katharsis, die im Tanz die eigentliche Befreiung fand. Ich war tief gerührt und beeindruckt. Seitdem denke ich oft an das Zitat von Madonna, die sagte: „Nur wenn ich tanze, kann ich mich so frei fühlen“. Vielleicht sollten wir einfach öfters mal den „Bolero“ von Ravel auflegen, das Volumen auf sehr laut drehen, an egal was denken und uns von der Last der Zeit ein wenig befreien. Wow, Roosje hätte es gefallen. Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

Falls Ihr tanzen wollt! Play it loud!!!

https://www.youtube.com/watch?v=Q4wb11w0ZHQ

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