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Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Samstag, dem 21.03.2020

Ich bin heute Morgen wach geworden und habe nachgerechnet, wie viele Stunden ich gestern eigentlich vorm Bildschirm, also dem Computer verbracht habe, einen Fernseher habe ich seit 20 Jahren nicht mehr: Mit wenigen kleinen Unterbrechungen fast 15 Stunden. Ich war richtig erschrocken. Natürlich will man in der momentanen Situation jederzeit gut informiert sein über die aktuellen Entwicklungen. In unserem Medienzeitalter gilt nur die Echtzeit, scheinbar. Außerdem muss ich als Freiberufler ja auch schauen, wie es weiter geht. Die meisten Aufträge sind weggebrochen, auf unbestimmte Zeit verschoben, auf Vorschläge bezüglich neuer Projekte reagiert keiner mehr. Trotzdem hilft das „Geschäftigbleiben“ auf jeden Fall, die dunklen Gedanken zu besänftigen. Ich habe mir für heute eindeutig eine digitale Auszeit verordnet, also nach dem Schreiben und Versenden dieser Zeilen, versteht sich. Ich habe mich nach dem ersten Kaffee schon einmal vorsorglich am Bücherregal bedient und eine der wenigen bisher ungelesenen Biografien herausgegriffen.

 

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Als ich den Deckel des Buches aufschlage, fällt mir eine Postkarte entgegen. Ich drehe sie um und siehe da, es ist eine handgeschriebene Notiz und ein Gruß des Autors selbst darauf. Ich freue mich sehr über diesen Anblick und auch das Persönliche an diesem Gruß. Auch ist es wirklich spannend, wie man auch mit nur vier Zeilen mit der Hand geschrieben Worten den Menschen und seine Persönlichkeit erkennen kann. Jeder Schwung des Stiftes ist bewusst vollzogen. Fast neidisch blicke ich auf das Schriftbild. So eben habe ich das nie hinbekommen. Außerdem habe ich schon lange keine Postkarten, geschweige denn einen mehrseitigen Brief per Hand geschrieben. Ich erinnere mich an die letzten Versuche, wo die Hand mir schon nach ein paar Zeilen ihren Dienst versagte, Buchstaben aus der Spur gerieten, meine innerliche Ungeduld zu kribbeln begann und mich nach einigen unleserlichen Zeilen dazu zwang, genervt aufzugeben. Wie habe ich das früher nur hinbekommen? Lächelnd erinnere ich mich an so manchen handgeschriebenen Liebesschwur oder auch den einzigen Kontakt zu meinen Eltern in einem dreiwöchigen Tramper-Urlaub als 17 Jähriger in Frankreich. Eine Postkarte und ein Anruf mussten als Lebenszeichen reichen.

Der einflussreiche Soziologe Richard Sennett, ein Schüler von Hannah Arendt, erinnert in seinem Buch „Handwerk“ daran, dass die Entwicklung von Hirn und Hand eine untrennbare Einheit bilden; dass kausales Denken im Umgang aller fünf Sinne mit den Materialien der Welt entsteht und handwerkliche Intelligenz, wie Aufmerksamkeit, Fantasie, Improvisations- und Kombinationsgabe, in jedem Menschen geboren wird. Auch das Schreiben mit der Hand ist in diesem Sinn ein Handwerk, was es zu erarbeiten gilt. Uns Menschen macht das komplexe Zusammenspiel von Wahrnehmung, Materialgefühl, Haptik, Handfestigkeit, Ausprobieren, Verfehlen und Heureka – „Ich habe (es) gefunden“ – aus, dem wir historische Erfindungen wie die drehbare Töpferscheibe und die Glühbirne verdanken. Und wohl auch die Möglichkeit, Situationen wie die Corona Krise zu überleben und die Zeit der Genesung sinnvoll zu gestalten. Und sich eben auch auf wenige Worte und deren korrekte Reihenfolge zu konzentrieren, nicht nur der Schönschrift wegen, sondern damit sie wirklich eine Botschaft enthalten und nicht nur Gefasel sind.

Ich glaube, ich habe meine Aufgabe für heute gefunden. Ich werde mal schauen, ob ich noch irgendwo ein paar alte unbeschriebene Postkarten finde, auf denen ich mich mit ein paar Genussgedanken ausprobieren kann, um sie an Freunde zu verschicken, die Post funktioniert ja noch, die ebenfalls in der Isolation verharren und auf jeden noch so kleinen Lichtblick warten und hoffen. Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

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