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Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Montag, dem 30.03.2020

Ich habe heute Morgen nach dem Aufstehen und wie an den meisten Tagen momentan ganz automatisch meinen grauen Fleece-Pullover angezogen. Irgendwie ein Ritual der Heimarbeit, sich einkuscheln in das vertraute und geliebte Kleidungsstück, welches mich schon einige Jahre begleitet, um in meinen Gedanken wirklich zuhause zu sein. Beim ersten Kaffee habe ich dann mal nachgerechnet, wie lange ich das gute Stück denn schon mein Eigen nenne und wo es herstammt. Erstaunt stelle ich fest, dass ich den Pullover Anfang der 90iger Jahre in den USA in einem dieser glatten, seelenlosen, gut gekühlten, mehrere Fußballfelder großen Shopping Center gekauft habe, ich ihn also schon fast 30 Jahre trage. Unglaublich, was der Fleece Pullover in dieser langen Zeitspanne so alles mit mir erleben durfte, Ereignisse von großer persönlicher aber auch gesellschaftlicher Dimension. Ich hatte schon einmal einen so wichtigen Zeitzeugen meiner persönlichen Reise durch die Geschichte. Einen blauen Nicki-Pullover, auch kuschelig, mit blau-weiß-roten Streifen am Kragen.

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Nicki-Pullover waren die Vorläufer, besser, die erste Generation Sweatshirts, die man in den 60igern und 70igern so kannte. Mein blauer Nicki war eine damals noch übliche Zweitverwertung von Kleidungsstücken, ein ausgemusterter Pullover meines Vaters. Ihm schien er zu ausgeleiert und zu schäbig für die Gartenarbeit. Mir wurde er daher umso kostbarer. Der blaue Nicki wurde mein identitätsstiftendes Markenzeichen, welches ich nur widerwillig und nach mehrmaligen Ermahnungen meiner Mutter zur Reinigung auszog. Er könnte ja durch diesen Gewaltakt die in der Pubertät so wichtige Zauberkraft verlieren… Ich glaube, ich habe auch so manche Nacht darin geschlafen und ihn dann einfach durchgetragen. Er wurde zu meiner zweiten Haut und als unverkennbares Lieblingsstück auch mein Schutzpanzer. Zum Outfit gehörten außerdem die gebatikte, also eingefärbte Latzhose, mein mit Patschuli reichlich beträufelter Schal vom indischen Grabbelgeschäft am Bahnhof und ein schwerer, von einem Kumpel geliehener Pelzmantel, der mir fast bis an die Knöchel reichte. Ein Bild des Grauens nach heutigen Vorstellungen. Wir fanden uns cool.

Je nach Kleidungsstil wurde man automatisch Teil einer Gruppe, also einsortiert, mit einem Kodex, Regeln, Parolen, damals längst nicht so diversifiziert und inszeniert wie heute mit all den sozialen Medien. Es gab vielleicht fünf oder sechs verschiedene Ausprägungen. Wir fühlten uns in der Tradition der Hippies, tranken Tee in Jugendzimmerzeremonien, brannten, zum Leidwesen meiner Eltern, so viele Räucherstäbchen ab, dass heute jeder Feuermelder sofort losheulen würde. Wir fühlten uns sowas von erwachsen. Es ging in den Gesprächen natürlich um den Sinn des großen Ganzen und immer wieder um die Demos, die man deswegen besuchen wollte. Samstag ist wieder eine, wurde geflüstert. Wogegen? Egal, wir gehen hin. Irgendwie fühlte ich mich nicht immer zugehörig. Es gab natürlich auch Spannungen zwischen den Gruppen oder besser Überzeugungsgemeinschaften. Als es 1979 zur obligatorischen Klassenfahrt nach Berlin, die geteilte Stadt, ging, resultierte die Abgrenzung zwischen uns Späthippies und der gerade erst aufkommenden Punkbewegung in lautstarkem und gegenseitigem Gejage durch die U-Bahn Korridore. Je nach Gruppengröße ging es mal in die ein, dann wieder in die andere Richtung. Wollten wir nicht eigentlich alle das Gleiche, die Welt verbessern?

Der blaue Nicki wurde auch Zeuge der Entdeckung des anderen Geschlechts. Es war die große Zeit der Kellerpartys mit gemischter Besetzung. Die Vorbereitungen waren ein aufregender Prozess, da niemand sein Interesse an dieser oder jener Person quasi öffentlich kundtun wollte. Es wurde reichlich Bier besorgt, die Schallplatten zusammengekarrt, der DJ bestimmt und ein Matratzenlager errichtet. Es gab letztendlich auch nur zwei Prinzipien: Saufen oder Fummeln. Ok, Tanzen gab es auch noch, für die, die nach ausreichend Bierkonsum niemand abbekamen und nicht auf dem Matratzenlager landeten. Mein kuscheliger Nicki schien zu wirken. Im Gegenzug sammelte ich praktische Physikerfahrungen. Die auf dem Polyester-Pullover des weiblichen Objektes der Begierde wandernde Jungenhand kann zu elektrischen Spannungen führen. Ich habe mich davon nicht abschrecken lassen in all den Jahren danach und meine entsprechenden Nachforschungen mehr oder weniger erfolgreich weiterverfolgt. Nur mein blauer Nicki, der existiert nicht mehr. Der graue Fleece Pullover steht jetzt für eine andere Phase meines Lebens und Erlebens. Bisschen mehr Funkenschlagen wäre natürlich manchmal schon schön… Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

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