Genussgedanken von Matthias Grenda
Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Samstag, dem 28.03.2020

Ich habe heute Morgen in der Tageszeitung den leider nicht mehr so gebräuchlichen Satz „Der Mensch lebt nicht vom Brot alleine“ gelesen. Eine Tatsache, die in Anbetracht der momentanen Situation heute allerdings schwierig zu vermitteln scheint. Natürlich ist die oberste Priorität jetzt eine funktionierende medizinische Versorgung, die Sicherung des täglichen Bedarfs an Lebensmitteln oder auch Klopapier und die Aufrechterhaltung unseres wirtschaftlichen Auskommens. Schaue ich mir allerdings die „Postings“, also Mitteilungen, in den sozialen Medien an, springt mich die große Sehnsucht der Menschen nach Seelenfutter (sinn)bildlich an. Selbst unser Aufruf zu einer Online Vernissage im Genusskaufhaus, live und vor Ort geht ja im Moment nicht, mit den großartigen Food Fotos im Stile alter holländischer Meister von Joerg Lehmann, schau einfach mal auf der Homepage nach, erreichte 17.000 Online Nutzer und generierte etliche virtuelle Besucher, als alle Bilder ab 19 Uhr freigeschaltet waren. Es kann nicht nur die häusliche Langeweile gewesen sein.

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Bild: Quinoa Twist von Joerg Lehmann

Ich erinnere mich an viele prägende Kulturerlebnisse, die mich auf die eine oder andere Weise mein Leben lang begleiten, die mir Genussgedanken bereiten und mir in schwierigen Situationen Trost und Erbauung schenken. Unvergessen ist der Besuch des „Hair“ Musicals, als ich nicht mehr Kind aber auch noch kein Jugendlicher war. Die Darsteller krochen, kletterten, balancierten über die Stuhlreihen von hinten über uns Zuschauer auf die Bühne. Ich spürte sofort diesen Bann der künstlerischen Kommunikation. Ich sah auch zum ersten Mal Schauspieler nackt auf der Bühne, was mich allerdings nicht so sehr beeindruckte wie die Rasterfahndung in die wir auf dem Nachhauseweg gerieten, es war die Hochphase der RAF. Überall gab es Blaulichtblitze im Regen und Uniformierte mit Maschinenpistolen standen neben unserem VW Käfer, ich ganz schlaftrunken und überwältigt von der Zeitreise des Abends. „Walking in Space“ eben, wie eines der Lieder des Musicals.

Jahre später, ich lebte in den USA und fühlte mich eigentlich auch ganz wohl dort, war ich Gast bei einem Symphonie-Konzert in Savannah, Georgia. Gebannt lauschte ich Igor Strawinskys „Feuervogel“ und glaubte, wie bei den unkommentierten Ballonfahrten im NDR Fernsehen, über Deutschland zu schweben, die Landschaft von oben zu betrachten, meiner deutschen Seele zu begegnen. Ich war gerührt, verunsichert, genoss aber das heimelige Gefühl, das mich durch die darauf folgenden Tage trug und auch heute jederzeit wieder abrufbar ist. Letztendlich entschied ich mich wohl schon an diesem Abend, mein amerikanisches Leben ein paar Jahre später aufzugeben. Natürlich spielen da auch andere Faktoren mit hinein, aber die kulturelle Prägung machte letztendlich den Ausschlag. Tiefe Verneigung vor jedem Künstler, der oder die das zu ermöglichen vermag.

„Der Mensch lebt nicht vom Brot alleine“. Künstler und Kultur sind für eine Gesellschaft meiner Meinung nach genauso elementar wie jede andere Grundversorgung, neben Wasser und Brot vielleicht schon an dritter Stelle. Weil der Entstehungsprozess für die meisten Menschen aber so gar nicht nachvollziehbar ist, die Anstrengungen dieser mental bedrohlichen Auseinandersetzung mit lebensrelevanten Fragen des Menschsein selten wirklich nachgespürt werden können, aber auch die Kunst des Verdichtens vielen Künstlern heute mit all der Konzeptkunst und handwerklichem Mangel nicht mehr vergönnt ist, bleibt den Kulturschaffenden eine wertige Anerkennung oft versagt. Die malen, schreiben, singen halt. Kann doch jeder, zeigen ja selbst die Casting Shows. Oder, warum sollen wir denn Künstlern wie den Rolling Stone oder Gerhard Richter helfen, die verdienen doch Millionen. Leider ist die Realität für die meisten Kulturschaffenden anders.

Ein viel zu früh verstorbener Künstlerfreund von mir war das Münsteraner Urgestein Roger Trash. Roger war für einiges bekannt, aber wirtschaftlich wenig erfolgreich, mit seinen Texten, Liedern und unvergessenen Performances a la Charles Bukowski oder Johnny Cash. Zu Berühmtheit, über die Region hinaus, hat es nicht gereicht. Meine Hochachtung hatte Roger aufgrund seiner Gabe, die Essenz künstlerischen Schaffens in nur ein Wort zu formen. Bei einem Gespräch über das Prekäre am Künstlerdasein, überraschte er mich mit der Aussage, er sei zumindest „Erlebnismillionär“. Mein Herz hüpft heute noch bei diesem Wort. Das zweite Meisterwerk von Roger war seine Selbstbezeichnung: Er wäre „Landstreichler“. Nein, „Seelenstreichler“ möchte ich ihm jetzt und am Liebsten persönlich entgegnen. Und ja Roger, ich vermisse Künstler wie Dich in dieser schlimmen Zeit. Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

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