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Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Freitag, dem 20.03.2020

Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen. Dementsprechend Gedankenverhangen starte ich heute in den Tag. Momentan wird von offizieller Seite, also Teilen der Politik, den Medien, aber auch in den sozialen Medien und bei Telefongesprächen mit Freunden und Bekannten oft der Tod thematisiert. Und, verstärkt durch die Situation in Italien, die Angst, nicht Abschied von sterbenden Angehörigen nehmen zu können. Alle wollen natürlich zuerst einmal ihr Mitgefühl, also ihre Empathie zum Ausdruck bringen. Verständlicherweise, ist doch der Tod eine enorme persönliche Herausforderung und die zentrale Frage in jeder Biografie: Wie gehe ich mit der Endlichkeit meines Seins um? Aber da haben wir auch schon das ganze Dilemma. Es setzt sich kaum jemand mit dem eigenen Leben und konsequenterweise auch mit dem eigenen Tod wirklich auseinander. Auch das Leben und Sterben der Angehörigen wird oft zu spät betrachtet und mündet deshalb meistens in einem traumatischen Erleben und nicht mit einer Verarbeitung und damit auch Befriedung.

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Aufgrund der Corona Krise wird uns durch einige Politiker und Journalisten die Schrecklichkeit des Sterbens in Italien auf das Gemüt gelegt mit der Botschaft, dass wir doch so etwas hier nicht wollen. Das „Abschied nehmen können“ von sterbenden Angehörigen wird uns als ultimative Aufgabe für das Ende eines Lebens und damit auch das Ende einer Beziehung suggeriert. Vordergründig klingt das natürlich fürsorglich und empathisch. Denke ich aber genauer darüber nach, ist es eher eine Projektion und vor allem auch das beste Zeichen der emotionalen Abschottung und Hoffnung, dass diese narzisstische Kränkung, und das ist der Tod nun einmal, uns persönlich nicht treffen soll. Eigentlich naiv, oder? Ist das ganze Leben nicht ein Abschied nehmen, ein auf das Ende hinaussteuernder Prozess? Sollte die Aufgabe nicht sein, eine regelmäßige Auseinandersetzung mit dieser zentralen Frage eines jeden Lebens zu pflegen? Ich glaube an das Gespräch über Generationen hinweg. Nicht täglich, dazu ist das Thema zu ernst und das Leben auch zu schön, aber eben ab und zu. Hier ist auch eine Verantwortung bei der älteren Generation, die Folgenden darauf vorzubereiten.

Meine Großmutter mütterlicherseits, die aus Danzig, war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Zu Festtagen, wie z.B. an Weihnachten, wartete die ganze Familie schon gespannt auf Omi Hamburg. Omi Hamburg, weil sie nach der Flucht erst in Lübeck und dann in Hamburg lebte. War Omi Hamburg dann da, saßen wir Kinder mit offenem Mund und lauschten ihren Erzählungen. Einmal war sie im Sommer zu Besuch, ich war in meiner ersten Partyphase, ich muss so um die 15 gewesen sein, und verabschiedete sie im Flur vor meinem nächtlichen Streifzug. Wie damals üblich trug ich Cowboystiefel und stampfte unbekümmert davon. Als ich nachts wieder zuhause eintraf, saß meine Großmutter auf einem Stuhl im dunklen Flur. Sie hatte auf meine Rückkehr gewartet. Verdutzt fragte ich warum. Sie erzählte mir von meinem Großvater, der im 2. Weltkrieg Soldat werden musste und an die Front geschickt wurde. Er habe sich von ihr verabschiedet, sei 15 Schritte bis zum Gartentor gegangen, habe noch einmal gewunken und sei dann nie mehr zurückgekehrt. Er fiel Tage später in Stalingrad durch einen Bauchschuss. Ich hätte an diesem Abend ebenfalls genau 15 Schritte bis zum Gartentor gebraucht, sie habe es aufgrund des Halls der Stiefel mitzählen können und sie habe mich winken sehen. Sie wollte jetzt nur sicher sein, dass ich nach Hause zurückkehrte…

Wir haben noch einige Zeit im Flur gesessen und gesprochen. Damit hat mir meine Großmutter ein großes Geschenk bereitet, mich ganz persönlich und vor allem miteinander mit dem Tod und auch dem Sterben und was mit den Angehörigen passiert umgehen lassen. Auch wenn es keine Genussgedanken sind, so ist doch die Erinnerung an dieses und einige anderen Gespräche zu diesem Thema wertvoll und wichtig. Ja, ich denke an Genuss, wenn ich an die guten Gespräche in meinem Leben zurückdenke. Wie aufgewühlt ich war nach nächtelangen Diskussionen, wie gehaltvoll sie mein Leben danach begleiteten. Wie hilfreich sie bei Weggabelungen mir die Möglichkeit des perspektiven Denkens und Handelns erlaubten. Und darum geht es auch, wenn ich an die Situation heute denke. Wer zu Lebzeiten nicht nachdenkt und spricht, sich also austauscht, für den ist das „keinen Abschied“ nehmen können, nur ein Zeichen von Ohnmacht und vorgeschobener Empathie, letztendlich also einer narzisstische Kränkung. Egal wie sehr ich auch für Fakten bin und die sind in der jetzigen Zeit dringend zu beachten, ich glaube an eine couragierte emotionale Auseinandersetzung und an die Magie heilender Geschichten. Ich habe es schon öfters erlebt. Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

 

Hier ein Nachbericht zu den 5. Nordwalder Biografietagen (2012) zum Thema „Tod – Teil des Lebens“:

http://issuu.com/dialogbiografie/docs/rueckblick_5_biografietage

 

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