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Genussgedanken von Matthias Grenda

Kulturfarmer

Genussgedanken zum Samstag, dem 02.05.2020

Die Routine des täglichen Aufschreibens meiner Genussgedanken hat in mir die Überzeugung reifen lassen, die Ereignisse während eines Schlüsseljahrs meines Lebens aufschreiben zu wollen. 1986 wurde ich mit meiner damaligen Freundin, einer Halbitalienerin aus Norddeutschland, zu einer Hochzeit nach Sardinien eingeladen. Wir waren gerade mit unseren Ausbildungen zu Hotelkaufleuten fertig und dachten, es wäre ein günstiger Zeitpunkt, sich neben der Feier auf das Abenteuer einer saisonalen Jobsuche in einer der Touristenregionen der Insel einzulassen. Es kam dann ganz anders. Wir landeten auf der Isola di San Pietro, einer kleinen Insel südwestlich vom sardischen Festland, und blieben fast ein Jahr. Isola di San Pietro ist in vielfältiger Weise einzigartig und als Insel von gerade mal zehn mal acht Kilometern Größe, weniger als 6.500 Einwohnern und nur einem Ort, ein sehr überschaubarer Lebensraum. Die Legende besagt, dass im Jahre 46 nach Christus der Apostel Petrus während eines Sturms auf der felsigen Insel Zuflucht fand und ihr so letztendlich den Namen gab.

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Das Besondere an der Zeit auf San Pietro war auf der einen Seite die sich schnell einstellende und normale Alltäglichkeit zwischen Arbeit und Freizeit, einem kleinen Freundeskreis und den üblichen Routinen, wenn man in einer Gastfamilie lebt und sich mit der neuen Lebenssituation arrangiert. Auf der anderen Seite war es natürlich außergewöhnlich, auf einer Insel im Mittelmeer zu leben, Tauchen von Tarcisio, einer Unterwasser Berühmtheit, zu erlernen, unter und über Wasser zu arbeiten, Strände für sich alleine zu haben, die Insel zu erkunden und die Kultur einer für uns fremden und aufregenden Zivilisation kennenzulernen. Eine weitere Besonderheit war, dass wir bei einem Paar, Tarcisio und Elisabeth, lebten, welches ein Jahr vor unserer Ankunft ihren damals 17jährigen Sohn Peter bei einem Tauchunglück verloren hatte. Ich führte in der Zeit auf San Pietro mit meinen 22 Jahren in gewisser Weise ein geliehenes Leben, in dem ich mal mehr, mal weniger spürbar in die Rolle von Peter schlüpfte und den Eltern den Sohn ersetzte.

In der Zeit auf der Insel erlebte ich in komprimierter Weise alles, was zu einem erfüllten und ganzen Leben dazugehört. Die Gedanken an die Ereignisse zaubern mir heute noch regelmäßig ein Lächeln ins Gesicht, lassen mich aber auch nachdenklich werden. Letztendlich entstammen diesem Schlüsseljahr mein Interesse an Lebensgeschichten und die Idee zu den Nordwalder Biografietagen. Hier mal in ganz kurzer Form zwei der besonderen Insel-Erlebnisse:

Die Blechbüchsen von Nuraminis. Eine italienische Hochzeit ist immer eine außergewöhnliche Feier. Auf Sardinien wird dieses Fest sogar mehrtägig und nach bestimmten Ritualen gefeiert. Gerade die Vorbereitungen finden nach Geschlechtern getrennt statt und waren für mich mit sprachlichen Komplikationen verbunden. Ich erlebte eine große Frömmigkeit und staunte über die komplett anderen Bräuche. Aus der Ratlosigkeit für ein besonderes Geschenk, welches mit unserer Kultur zu tun hat, entstand die Idee, dem Brautpaar Büchsen hinter das Auto zu binden, einer in dem sardischen Bergdorf Nuraminis vollkommen unbekannten Sitte. Die Aktion hatte ungeahnte Folgen. Noch Nächte nach der Hochzeit erschallte Gelächter aus den Nachbarhäusern, weil wieder irgendjemand Blechbüchsen hinter irgendein Auto gebunden hatte und diese durch die Nacht klapperten.

Der grüne R4 und wie er mich berühmt machte. Wie so oft waren wir abends nach dem Essen mit den Freunden auf der Piazza von Carloforte unterwegs. Ein Eis hier, ein Schwätzchen da, dann ab zu Massimo an die Bar. Wir leerten eine ganze Flasche Averna. Trotzdem bat mich Trilia, der Freund, der oberhalb des Ortes wohnte, ihn nach Hause zu fahren. Hoch ging es die Serpentinen, der Scheinwerfer leuchtete abwechselnd an die Klippen, dann über die ganze Bucht auf das Meer hinaus. Ich dachte, wenn es auf der einen Seite rauf geht, geht es auf der anderen Seite auch wieder runter. Plötzlich fuhr ich holpernd ins Nichts, ins Dunkle. Trilia zerrte uns aus dem Auto und ließ uns bei sich schlafen. Am nächsten Morgen kam das böse Erwachen, hunderte von Stufen führen zurück ins Dorf, alle 15 ein Plateau gerade groß genug für den R4. Die Fußball Heimmannschaft spielte an diesem Sonntag das Derby gegen Cagliari, die sardische Landeshauptstadt. Die Zuschauer mussten zum Stadion alle am R4 vorbei. Gelächter, Gerede. Aus der Rettungsaktion des Autos wurde ein italienisches Volksfest und ich, der verunglückte Fahrer, berühmt auf der ganzen Insel.

Ich lernte viel über die Insel, das Leben dort, das Leben selbst und den Tod, die schlichte aber bereichernde Philosophie der Menschen, ihre Spiritualität, aber auch viel über mich. Die Ungeduld und Neugier auf ein Leben in der großen weiten Welt ließen mich damals San Pietro verlassen und erst nach 30 Jahren widerkehren. Heute weiß ich, dass ich die Jahre nach San Pietro auf der Suche nach etwas war, was ich dort schon längst gefunden hatte. Ich bin gespannt darauf, wie sich das Nachdenken und Aufschreiben dieses Teils meiner Lebensreise anfühlen wird. Das Gleiche gilt auch für Dich. Du musst es nur tun.

Also, Dir einen schönen Genusstag und bleib gesund!

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